Ein hochgradig interessantes Buch über das Innenleben des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), welches auch handwerklich (über weite Strecken) zu überzeugen weiß. Die Autor:innen arbeiten zuerst typische Karriereverläufe bzw. Mitarbeitertypen heraus und zeigen dann, wie das MfS als [[Greedy Institution]] funktioniert hat und einen eigenen Habitus unter den Mitarbeiter:innen erzeugt hat ([[Tschekistischer Habitus]]). Aus diesen zwei Hauptbefunden leiten sie dann ab, wieso die ehemaligen MfS Mitarbeiter:innen in der Regel nichts falsches an ihrer Arbeit erkennen können. Zum Schluss zeigen sie – wiederum per Typenbildung (Idealtypen bei Weber), wie die ehemaligen MfS-MAs auf die Wende reagiert haben und schließt mit Anleihen bei [[Hannah Arendt]]. Im MfS zeigte sich demnach die [[banality of evil]], da die Verbrechen, die in seinem Namen begangen wurden, ganz im Sinne der Moderne als technische Vorgänge umgedeutet wurden, die es zu lösen gilt.
## Highlights
Zur Darstellungslogik der vorliegenden Studie ist anzumerken, dass aus Gründen der Lesbarkeit einer systematischen Ergebnispräsentation der Vorrang gegenüber einer strikten Orientierung am tatsächlichen Prozessverlauf der Erkenntnisgenerierung im Untersuchungsprojekt gegeben wurde. Um dennoch das hier praktizierte Vorgehen - die empirisch begründete Theoriebildung im Zuge der interpretativen Rekonstruktion - für die Leserinnen und Leser nachvollziehbar zu machen, wird an den relevanten Stellen im Text oder mittels Fußnoten kenntlich gemacht, wie die präsentierten Untersuchungsergebnisse zustande gekommen sind und welchen Stellenwert sie für den weiteren Erkenntnisprozess der Studie haben. Insbesondere Schlüsselstellen im Datenmaterial werden ausführlich vorgestellt und Einzelschritte der Analyse vorgeführt. (Page 22)
- Note: Tolle Formulierung, um auszusagen, wie Forschungsprozess und Darstellung sinnvoll abweichen
- Mit dieser, hier skizzierten Forschungsperspektive ist kenntlich gemacht, wo die Studie wissenschaftlich zu verorten ist: innerhalb der Interpretativen Soziologie, Von zentraler Bedeutung für dieses soziologische Paradigma ist die Annahme, dass jede soziale Ordnung auf Deutungs- und Gestaltungsleistungen der handelnden Akteure beruht und sinnhaft strukturiert ist. In der Regel tun oder unterlassen Menschen etwas, weil sie dem eine Bedeutung beimessen. Sie verfolgen bestimmte Absichten, wägen Aufwand und Nutzen ab, hängen an Gewohnheiten oder berufen sich auf Gewissheiten, dass etwas so und nicht anders sein sollte. Treffen Menschen aufeinander, werden Handlungen einschließlich der relevanten Wissensbestände und Motivlagen koordiniert, Selbst- und Fremdbilder abgeglichen, Situationsdeutungen ausgehandelt, Entscheidungen gefällt, Vereinbarungen getroffen, Sinnfragen aufgeworfen, wird an Werten festgehalten oder auch mal das Bewährte in Frage gestellt. Freilich werden diese basalen Interpretationsleistungen von den Akteuren selbst nicht ständig bewusst reflektiert. Da sie in der Regel unter Handlungsdruck stehen, wäre ein umfängliches Resümieren über die entsprechenden Deutungs- und Erwartungsmuster sowie Wissensbestände in der konkreten Situation zumeist war 8 Einzelne Theorierichtungen, die sich diesem seit den 1960er Jahren aufkommenden Interpretativen Paradigma zuordnen lassen, sind Symbolischer Interaktionismus, Labeling Approach, Grounded Theory, Ethnomethodologie, Wissenssoziologie. Zentrale Vertreter sind Herbert Blumer, William Thomas, Anselm Strauss, Barney Glaser, Erving Goffman, Soziologie.
Aaron Cicourel, Harold Garfinkel, Alfred Schütz, Peter Berger und Thomas Luckmann.
Freilich darf der Verweis auf die frühen Klassiker des Interpretativen Paradigmas nicht fehlen - allen voran Max Weber mit seiner handlungstheoretisch fundierten Verstehenden kontraproduktiv. Normalerweise wird gehandelt, ohne die komplexen Sinnzusammenhänge inklusive der Nebenfolgen des Handelns bis ins Detail gedanklich durchzuspielen. Insofern sind die tatsächlichen Interpretationsleistungen der Akteure impliziter Bestandteil ihres Handlungsvollzuges. Das Aufdecken der Bedeutungszuschreibungen handelnder Akteure und der dahinter liegenden typischen sozialen Muster ist das zentrale Anliegen der Interpretativen Soziologie. Rekonstruiert werden soll der Vollzug sozialer Alltagspraktiken oder wie es in der Sprache der ethnografischen Forschung heißt: das »>Doing« sowohl konkreter Situationen als auch komplexer institutioneller Ordnungen. Es geht mit dem bekannten Titel von Berger/Luckmann (1969) formuliert - um »die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit«. Die Grundannahme der Interpretativen Soziologie von der Sinnstrukturiertheit der Sozialwelt hat weitreichende forschungsprogrammatische Konsequenzen für die vorliegende Studie. (Page 26)
- Note: Interpretative Soziologie
- Zweitens muss in Rechnung gestellt werden, dass es keinen direkten Zugang zu der interessierenden Binnenperspektive der MfS-Mitarbeiter geben kann. Wie sich der DDRGeheimdienst aus Sicht seiner Angehörigen darstellte, was diese dachten und empfanden, all diese subjektiven Interpretationen können sich Forschende selbst wiederum nur durch Interpretation, das heißt über den Modus des deutenden Verstehens erschließen, wobei sie auf authentische Selbstzeugnisse dieser Personen angewiesen sind. (Page 27)
- Note: Spannungsverhältnis zwischen Material und seiner Interpretation
- Solche Vorbehalte träfen für die vorliegende Studie zu, wenn wir als Forscherteam die DDRGeheimdienstmitarbeiter tatsächlich als »Augenzeugen<< oder »>Berichterstatter<< befragt hätten, von denen wir präzise Beschreibungen über konkrete Geschehnisse aus ihrer Dienstzeit erwarteten. Die Vorbehalte träfen auch zu, wenn die Interviewäußerungen von uns unreflektiert für bare Münze gehalten oder lediglich als thematische Setzungen paraphrasiert beziehungsweise als Fundus für eine oberflächliche Inhaltsanalyse benutzt worden wären. All dies ist jedoch mitnichten der Fall Wie mit der Bezugnahme auf das Interpretative Paradigma der Soziologie kenntlich gemacht wurde, interessierten die Sichtweisen und Wahrnehmungen der MfS-Mitarbeiter als Ansatzpunkte, um typische Habitusmuster dieser Personengruppe sowie wiederkehrende Struktur- und Prozessmerkmale der geheimdienstlichen Tätigkeit innerhalb ihres Ministeriums zu rekonstruieren.
Das Herzstück des Forschungsprojekts war nicht die Durchführung der Interviews, also die Datenerhebung, sondern die analytische Durchdringung des Interviewmaterials im Sinne des Interpretativen Paradigmas der Soziologie. Die interpretative Rekonstruktion wurde mittels elaborierter Analyseverfahren der qualitativen Sozialforschung durchgeführt, die im folgenden Abschnitt genauer erläutert werden. Aus dem Wissen um die Leistungsfähigkeit dieser Analyseverfahren speist sich letztlich unser unaufgeregter Umgang mit den Interviewpartnern. Grundsätzlich behandelten wir die DDR-Geheimdienstmitarbeiter genauso wie Interviewpartner in anderen qualitativ beforschten Untersuchungsfeldern: Die Möglichkeit subjektiver Erinnerungslücken und -verzerrungen sowie Täuschungen wurde in Rechnung gestellt, aber nicht als Absicht von vornherein unterstellt. Um die heuristische Stoßrichtung dieser Haltung hier kurz anzureißen: Gerade weil die MfSMitarbeiter nach 1989 eine starke gesellschaftliche Stigmatisierung erfahren haben, war anzunehmen, dass die Interviews von einigen genutzt werden könnten, um sich in einem möglichst »positiven Licht« darzustellen oder sich zu rechtfertigen. Genau diese antizipierbare Erwartungshaltung ist zu einem eigenen Analyseschwerpunkt der Untersuchung gemacht worden und ermöglichte Rückschlüsse darüber, wie stark die MfS-Mitarbeiter selbst heute noch ihrem damaligen Habitus verhaftet sind (vgl. viertes Kapitel, S. 281ff.). (Page 28)
- Note: Wie Methoden der Sozialforschung helfen, dieses Problem zu umgehen.
- In der empirischen Datenerhebung und -auswertung kamen Verfahren der qualitativen Sozialforschung zum Einsatz, mit denen sich die im ersten Abschnitt beschriebene Sinnstrukturiertheit der sozialen Welt - auf der Linie der Interpretativen Soziologie - analytisch aufschließen ließ. Rekonstruierbar waren somit typische Wahrnehmungs-, Denkund Verhaltensmuster sowie Motivationsstrukturen und Wissensbestände der hauptamtlichen MfS-Mitarbeiter und die sich aus diesen Dispositionen ergebenden Wirkungen für ihren Dienst in diesem Staatsorgan. Die qualitativen Untersuchungsverfahren zeichnen sich durch eine bestimmte Heuristik aus. In Abgrenzung zu quantitativen Verfahren, welche mit standardisierten Befragungen und statistischen Berechnungen arbeiten, um eine vorab aufgestellte These zu testen oder um bestimmte Merkmalsverteilungen auszuzählen, orientieren qualitative Verfahren auf eine »gegenstandsbezogenew respektive empirisch begründete Theoriebildung«<.13 Wie in dieser Bezeichnung bereits anklingt, werden die aufschlussreichen Thesen erst im Verlaufe des Forschungsprozesses entwickelt. (Page 34)
- Note: Theoriebildung mit qualitativen Methoden
- Jede Lebensgeschichte steht nicht nur für sich selbst, sondern verweist immer auch auf etwas Typisches, Verallgemeinerbares. Diese Auffassung fußt auf der soziologischen Einsicht, dass jeder Mensch zwar sein eigenes Leben als Individuum lebt, aber dennoch mit der Gesellschaft verbunden ist sozialen Ereignissen um ihn herum sowie mit den Sprach-, Denk- und Verhaltensgewohnheiten und den institutionellen Arrangements. Insofern gilt für die Interviews mit den MfS-Mitarbeitern, was generell für erzählte Lebensgeschichten zutrifft: Die Narrationen lassen sich als >>Selbstbeschreibungen von Individuen im Kreuzungsbereich gelebter Lebensgeschichte und gelebter Gesellschaftsgeschichte«< (Rosenthal 1995: 44) dechiffrieren. (Page 35)
- Note: Wie Fälle für das Ganze stehen können
- > Die jeweilige Gruppenmoral charakterisiert er als »eine Moral der Extreme<<. Zurückhaltung gelte ebenso als charakterliche Schwäche wie jeglicher Zweifel an den eigenen Normen oder Toleranz gegenüber internen Differenzen. Beständig werden Abtrünnige - seien es Abweichler, Ketzer oder Renegaten aufgespürt und aus der Gruppe ausgestoßen. Solche Selbstreinigungsaktionen stärken laut Coser (ebd. 115) den »Zusammenhalt der verbleibenden, gereinigten Würdigen<«<«<. Ausdruck der sowohl in religiösen Sekten als auch in politisch-radikalen Gruppierungen erwarteten totalen Gefolgschaft sind die massiven Versuche, die Außenkontakte der Mitglieder zu minimieren und deren Individualität zu nivellieren. Der »gute Radikale blüht auf in der selbst auferlegten Isolation von Kontakten zur Gemeinschaft. Das Wir der radikalen Gruppe bedingt die möglichst trennscharfe Unterscheidung von den Anderen«« (ebd. 17). Oder wie Coser an anderer Stelle anmerkt: »Der ideale Sektierer ist einer, der nur Sektierer ist, ohne irgendwelche anderen Eigenschaften« (ebd.. 112).
>
> (Page 214)
Während Goffman den psychischen und physischen Zwangscharakter totaler Einrichtungen betont, heben Coser und Siberski darauf ab, dass die entsprechenden Einrichtungen ihren Mitgliedern bestimmte positive Anreize für eine totale Unterwerfung bieten.
Coser (2015: 123ff.) verweist in seinen vergleichenden Studien zu religiös-radikalen Sekten (insbesondere den militanten Jesuiten) und politischradikalen Gruppierungen der Bolschewiki in Russland auf die (Auto-)
Suggestion der Mitglieder, auserwählt zu sein und auf den kollektiv geteilten Glauben, über wahre Einsichten und/oder über spezielle Fähigkeiten zu verfügen. Diese Zusammenschlüsse haben jeweils einen exklusiven Charakter. Anstatt breite Bevölkerungsgruppen anzulocken, wie dies etwa demokratische Volksparteien in westlichen Gesellschaften versuchen, zielen die von Coser (ebd.: 109) untersuchten Konstellationen auf »die Rekrutierung einer Elite religiös oder politisch geschulter >Leistungsträger«<<. Insbesondere Personen, die sozial benachteiligt oder sogar entwurzelt sind, bieten sie soziale Aufstiegsmöglichkeiten sowie das Gefühl der Zugehörigkeit und des Gebrauchtwerdens. Zugleich verlangen solche Gruppierungen von den Mitgliedern, in öffentlichen und privaten Angelegenheiten entschieden Stellung zu beziehen und sich dabei vorbehaltlos den Motiven und Anschauungen der Gruppe zu unterwerfen (ebd. 110). In dieser Hinsicht, so Coser, sind religiöse Sekten ebenso wie die bolschewistischen Gruppierungen »gierige Institutionen«<. (Page 213)
- Note: Gierige Institutionen
- Die jeweilige Gruppenmoral charakterisiert er als »eine Moral der Extreme<<. Zurückhaltung gelte ebenso als charakterliche Schwäche wie jeglicher Zweifel an den eigenen Normen oder Toleranz gegenüber internen Differenzen. Beständig werden Abtrünnige - seien es Abweichler, Ketzer oder Renegaten aufgespürt und aus der Gruppe ausgestoßen. Solche Selbstreinigungsaktionen stärken laut Coser (ebd. 115) den »Zusammenhalt der verbleibenden, gereinigten Würdigen<«<«<. Ausdruck der sowohl in religiösen Sekten als auch in politisch-radikalen Gruppierungen erwarteten totalen Gefolgschaft sind die massiven Versuche, die Außenkontakte der Mitglieder zu minimieren und deren Individualität zu nivellieren. Der »gute Radikale blüht auf in der selbst auferlegten Isolation von Kontakten zur Gemeinschaft. Das Wir der radikalen Gruppe bedingt die möglichst trennscharfe Unterscheidung von den Anderen«« (ebd. 17). Oder wie Coser an anderer Stelle anmerkt: »Der ideale Sektierer ist einer, der nur Sektierer ist, ohne irgendwelche anderen Eigenschaften« (ebd.. 112). (Page 214)
## Highlights
- Freilich »fällt« ein Habitus »nicht vom Himmel«. Ebenso wenig ist er
»angeboren«. Vielmehr ist der Habitus gesellschaftlich situiert, wird durch das jeweilige Umfeld, das »soziale Feld«, hervorgebracht. Habitus und Feld bilden in Bourdieus soziologischer Praxistheorie zwei Komplementärbegriffe. ([View Highlight](https://read.readwise.io/read/01gx6rd2tcg10ahcx7879thsvf))
- In der Regel wird die soziale Praxis eines Feldes von den involvierten Akteuren so, wie sie erfahren wird, stillschweigend hingenommen und für selbstverständlich gehalten. Die zumeist unhinterfragte »Übereinstimmung der subjektiven Wahrnehmung, Deutungen, Vorstellungen, Intentionen mit der sozialen Welt um einen herum« (Bourdieu 1979: 325) - die »Doxa« — und der unbewusste Vollzug der feld spezi fischen Regeln — die »Illusio des Feldes« - sind das, was den Einzelnen mit den anderen Feldakteuren mental verbindet und zur Ausprägung eines kollektiven Habitus des Feldes führt ([View Highlight](https://read.readwise.io/read/01gx6rjvjqjdxzjfmstp2ppemv))
- Diese dem Habitus innewohnende Beharrungstendenz, die »Hysterese« (vgl. Müller 1986: 164; Jurich 2006: 55), führt in sich ändernden Zeiten oder strukturellen Wandlungsprozessen zu sozialpsychischen Anpassungsproblemen bei den Habitusträgern und zu anachronistisch wirkenden Denk- und Verhaltensweisen. ([View Highlight](https://read.readwise.io/read/01gx6rkmrwt3hzpetp6wp43q06))
- Mit Bezugnahme auf die eben skizzierten grundlagentheoretischen Überlegungen Bourdieus lässt sich diese These dahingehend weiter zuspitzen, dass die MfS-Mitarbeiter einen mit der Institutionenordnung des MfS korrespondierenden kollektiven Habitus »inkorporiert« hatten. ([View Highlight](https://read.readwise.io/read/01gx6s5z95q7x6v7gva26m5h0m))
- Dieses Prestige spiegelte sich in der Art und Weise, wie sich die MfS-Mitarbeiter selbst sahen: als gesellschaftliche Elite. Das folgende Statement von Herrn Weißdorn (Jg. 1948, Referatsleiter) steht symptomatisch für dieses elitäre Selbstbild: »Wenn du Mitarbeiter der Staatssicherheit warst, warst du ein Repräsentant des Staates. Du warst im Prins^p anerkannt, du warst einer von oben.« ([View Highlight](https://read.readwise.io/read/01gx6s6wsx2kns2pp9fdbng60r))
- In der Forschung wird davon ausgegangen, dass der Untergrundhabitus
über die stalinistisch geprägten Widerstandszellen der deutschen Kommunisten gegen das NS-Regime in das MfS gelangte (Gieseke 1996: 14; Kowalczuk 2013: 21 ff.; Jurich 2006: 38ff.). Es war zunächst eine kleine Gruppe gesellschaftlicher Außenseiter — unter ihnen Erich Mielke und Markus Wolf -, die unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 in Ostdeutschland begann, geheimdienstliche und -polizeiliche Strukturen nach dem Vorbild des sowjetischen Geheimdienstes KGB aufzubauen. Diese Außenseiter eint, dass ihre politische Sozialisation stark geprägt war vom Glauben an den Kommunismus, vom Widerstand gegen das NSRegime, von Illegalität, Konspiration, Emigration sowie von der sowjetischen Parteischulung, einschließlich der stalinistischen Säuberungen gegen Abweichler. Seit ihrer Jugend waren sie es gewohnt, ihr Leben dem politischen »Klassenkampf« und dem Aufbau der sozialistischen Gesellschaft unterzuordnen und sich kathektisch an ihre politisierten (Untergrund-)Organisationen zu binden. ([View Highlight](https://read.readwise.io/read/01gx6sen87tgvcqf6c8gyahvga))
- historischen Ursprung dieses Habitus eingegangen, der noch weiter als bis zu den Antifaschisten zurückreicht. Die Grundzüge findet man - wie »auf dem Reißbrett konstruiert« — in Lenins Konzept einer »Partei neuen Typs«. ([View Highlight](https://read.readwise.io/read/01gx6sfpx34zzz14nff2z9pvea))
- Siberski (1967: 107) umreißt das Grundprinzip mit zwei Sätzen: »Die Untergrundorganisation an der Macht wird ihren Rahmen auf die ganze Gesellschaft ausdehnen. Die Gesellschaft, in einen Makrountergrund eingefügt, wird von den Machthabern als Organisation gedeutet.« ([View Highlight](https://read.readwise.io/read/01gx6skcq8mgzhzx1fy783vs6y))
- Die Untergrundorganisation existierte nach der Machtergreifung im Prinzip unverändert weiter. Sie wurde nicht an die Mehrheitsgesellschaft angepasst. Demnach war es - nun die These des Sozialphilosophen von der Ausweitung der Untergrundorganisation auf die Gesamtgesellschaft mit Bourdieus Überlegungen zur sozialkonstituierenden Funktion des Habitus zusammengeführt — in erster Linie der eigene Habitus, den die an die Macht gekommenen Untergrundkämpfer in »ihrer« neuen Gesellschaft durchsetzten. ([View Highlight](https://read.readwise.io/read/01gx6smqppcrdexqdnznvs1sns))
- Dieser Habitus findet seinen Ausdruck in der Selbstbeschreibung der MfS-Mitarbeiter als »Tschekisten«. ([View Highlight](https://read.readwise.io/read/01gx6t6b8fgv1n8n1bsb010hr8))
- Gezeigt wird, dass der »Tschekismus«128 unter den MfS-Mitarbeitern eine spezifisch staatssozialistische Variante einer herrschaftsinstitutionenbezogenen Corporate Identity darstellt. ([View Highlight](https://read.readwise.io/read/01gx6t8frs01ysjpc8r2da7m1m))
- Die »Genossen erster Kategorie« hatten zugleich als »Parteisoldat« bis zur Selbstaufopferung jede Aufgabe zu erfüllen. Erkennbar ist hier eine quasi-religiöse Motivstruktur: die Ambivalenz zwischen Berufung und Dienen. ([View Highlight](https://read.readwise.io/read/01gx6thgq9j20n6kx4y88s61ey))
- Vor dem Hintergrund dieser Ambivalenz erscheint der »tschekistische«
Habitus als ein egalitärer Elitismus. Es handelt sich - so unser Deutungsvorschlag — um einen gebrochenen Elitenhabitus. Der hier von uns ins Spiel gebrachte Begriff »gebrochener Habitus« legt unweigerlich eine Assoziation zum Konzept des »gespaltenen Habitus« von Bourdieu (1997: 459; Bourdieu/Wacquant 1996: 164) nahe. Während jedoch Bourdieu damit das Phänomen des »Nicht richtigen Ankommens im Feld« von sozialen Aufoder Absteigern beschreiben will, weil diese ihren Herkunftshabitus noch »in sich tragen« und deshalb innerlich »zerrissen« sind, zielt der gebrochene Elitenhabitus darauf, dass der feldspezifische »tschekistische« Habitus von seiner Anlage her selbst in sich »gespalten« war. Das Elitenverständnis der »Genossen erster Kategorie« wurde gebrochen durch die quasi-religiöse Komponente des »sich für die Sache aufopfem«.130 Einerseits wähnten sich die »Tschekisten« der Masse der DDR-Bevölkerung und selbst den anderen SED-Parteimitgliedern überlegen, aber andererseits definierten sie sich selbst als »Parteisoldaten«. ([View Highlight](https://read.readwise.io/read/01gx6tk1nkk7357xw2q568cfwh))
## New highlights added April 12, 2023 at 4:31 PM
- Ein Major, Jg. 1948, aus dem Stab des Leiters einer Kreisdienststelle, erinnert sich:
»Und da hab ich gesagt: Wenn der sagt, ich liebe euch alle — das war^.c Da bat der Kreisdienststellenleiter gesagt: AVas machen wir denn jetóle Ich sag >Dtt, wir brauchen nichts mehr machen, weil es ist vorbei. < Das war also, sag ich jet^t mal, das gravierendste Erlebnis, wo ich gesagt hab, jet^t ist es alle [sic].«
Diese Schilderung ist kein Einzel fall. Sie steht symptomatisch für den Eindruck, den Mielke mit seinem öffentlichen Auftritt vier Tage nach dem »Mauerfall« bei den Angehörigen des DDR-Geheimdienstes hinterließ. Auch sie erlebten den Auftritt als Bankrotterklärung des MfS. Zugespitzt ließe sich behaupten, dass Mielke selbst das Auseinanderbrechen dieses Geheimdienstes einleitete. Denn indem er sich als uncharismatischen greisen Mann »entzauberte«, der weder physisch (mit seiner Erscheinung), geschweige denn geistig die jahrzehntelang demonstrativ zur Schau gestellte und mit repressiven Mitteln durchgesetzte Allmacht des MfS repräsentieren konnte, wurde schlagartig klar: Der eigene Herrschaftsanspruch gegenüber der Bevölkerung ist unwiederbringlich delegitimiert. Der Scharfmacher Mielke, der von seinen »Genossen« immer forderte, die Feinde überall aufzuspüren und zu vernichten, bemühte nun in der Öffentlichkeit das Moralprinzip der Menschenliebe zur Charakterisierung seines Geheimdienstes. Mit der auf ganzer Linie demonstrierten Inkompetenz bot er — natürlich unfreiwillig — den MfS-Mitarbeitern eine günstige Gelegenheit zur »inneren« Aufkündigung ihrer Gefolgschaft gegenüber jenem Staatsorgan, dem sie auf Lebenszeit verpflichtet waren. Durch die Distanzierung von der Person Mielke fiel es nun leichter, sich auch vom MfS mental zu lösen. ([View Highlight](https://read.readwise.io/read/01gxt3xhey8etjnqstcmvhrffd))
- An dieser Stelle lässt sich konstatieren, dass mittels der aufgeführten stilistischen und rhetorischen Figuren versucht wird, die eigene MfS-Vergangenheit in ein »bestimmtes Licht zu rücken«. Es handelt sich um retrospektive Rechtfertigungs- und Entlastungbemühungen. Bei keiner der interviewten Person gibt es Reue oder ein Schuldeingeständnis in Bezug auf die eigenen Verstrickungen in dem Herrschaftsorgan. Ebenso wenig wird ein radikaler Bruch mit den beziehungsweise eine eindeutige Ablehnung der repressiven Praktiken thematisiert. Dieser Befund stützt den im Laufe unseres Forschungsprojekts generierten Erklärungsansatz, dass der Dienst »für die Staatssicherheit« mit der Inkorporierung des tschekistischen Habitus und der engen persönlichen Bindung an das MfS einherging. Die Unfähigkeit zu einer konsequent kritischen Haltung gegenüber dem DDR-Geheimdienst lässt sich darauf zurückführen, dass diese habituelle Prägung sehr nachhaltig Teil der persönlichen Identität geworden ist. Von der einverleibten »tschekistischen« Identitätskonstruktion können sich insbesondere die älteren ehemaligen MfS-Mitarbeiter noch immer nicht vollkommen lösen. ([View Highlight](https://read.readwise.io/read/01gxtm6dv10ex5k18hcadpas8n))
## New highlights added April 15, 2023 at 10:13 PM
- Die genannten strukturellen Eigenschaften ihres Dienstalltags - das
hohe Arbeitspensum, der Druck des sozialistischen Wettbewerbs, die Befehlshierarchie und die konspirative Wissenslimitierung — begünstigten unter den Angehörigen des MfS die Auffassung, als ein »Parteisoldat« dieses Ministeriums zu agieren. Eingespannt in ihrer Dienstausführung und zugleich der Autosuggestion erlegen, am »Aufbau des Sozialismus« an vorderster Front beizutragen, gab es für sie scheinbar keinen zwingenden Grund, die reale Tragweite ihrer eigenen Tätigkeit sowie die tatsächlichen Konsequenzen für Dritte kritisch zu hinterfragen. Hier lässt sich - mit der soziologischen Brille betrachtet - eine weitere Facette der »Banalität der Stasi« ausmachen: Durch die Art und Weise, wie der Dienstalltag im DDRGeheimdienst organisiert war, wurden die hauptamtlichen Mitarbeiter zur
fragmentierten Verantwortlichkeit angehalten. Die zugeteilten Aufträge — selbst wenn es sich um »triviale« Aufgaben in den operativen, administrativen oder ausführenden Bereichen handelte - sollten fokussiert, mit vollem persönlichen Einsatz, aber »ohne nach rechts und links zu schauen« erfüllt werden. Diese fragmentierte Verantwortlichkeit, die den Mitarbeitern permanent durch die militärischen Vorgesetzten oder in Form von Beförderungen und Prämien zurückgespiegelt wurde, ist nicht zu verwechseln mit einem »blinden Gehorsam«. Vielmehr ist sie eine Ausprägung des innerhalb des MfS wirksam gewesenen reflexiven Konformismus. ([View Highlight](https://read.readwise.io/read/01gxwsykk0rm2q38h4t93t682k))
- Zum Tragen kommt hier ein Mechanismus, den der Soziologe Zygmunt Bauman (2012: 115) am historischen Fall des Holocaust - dem in seiner barbarischen Dimension historisch beispiellosen Auswuchs des modernen Zeitalters - eindrücklich herausgearbeitet hat: die »Substitution moralischer durch technisch-formale Verantwortung« (Bauman 2012: 115). Dass die nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen überhaupt möglich waren, lag laut Bauman darin begründet, dass Menschen als Objekte einem bürokratischen Verwaltungsprozess und einer rational-zweckgerichteten Handlungskette unterworfen wurden und ihnen dadurch ihre Eigenständigkeit und Eigensinnigkeit als handlungsfähige Subjekte genommen wurde. ([View Highlight](https://read.readwise.io/read/01gxwt6gstkj5vqkerryhmj0y9))
- Hinter der Depersonalisierung von Menschen stecke, so sein gesellschaftstheoretischer Erklärungsansatz, der latente »Ordnungszwang der Moderne«. In modernen Gesellschaften gebe es das Bestreben, Unordnung systematisch zu eliminieren und Normabweichungen zu minimieren. Was primär zähle, seien die reine Zweckrationalität und Effizienz von Prozessen und Strukturen. Demnach würden in modernen Gesellschaften die funktionalen Systemimperative zum moralischen Maßstab. Worauf Bauman insistiert, ist, dass es in der Moderne die Tendenz gibt, das zweckgerichtete auf Funktionserfüllung angelegte Handeln der Menschen von den gängigen moralischen Bewertungsmaßstäben des Common Sense zu entkoppeln. ([View Highlight](https://read.readwise.io/read/01gxwt7emn9jxtwzsb2yyexymw))
- Ein solcher egalitärer ^Utismus. wie er im »tschekistischen« Habitus angelegt war, ist für moderne Gesellschaften eher untypisch. Man findet diese habitualisierte Ambivalenz zwischen dem »Sich-berufen-Fühlen« und der persönlichen Selbstaufopferung eher bei fundamentalistisch orientierten
Angehörigen monotheistischer Religionsgemeinschaften. Geradezu prototypisch verkörperten die grundsätzlich antireligiös und atheistisch eingestellten MfS-Mitarbeiter mit ihrem gebrochen quasi-religiösen Habitus den »Dreist des Staatssozialismus« (vgl. sechstes Kapitel, S. 231). ([View Highlight](https://read.readwise.io/read/01gxwtc40ybc7y22krgf7syd9g))
- Dieser blinde Fleck hatte reale Folgen — ganz im Sinne des von Dorothy S. und William I. Thomas (1928: 572) in den soziologischen Diskurs eingebrachten so genannten Thomas-Theorems: »If men define situations as real, they are real in their consequences«. Die reale Konsequenz ihrer kollektiv geteilten Realitätsdeutung war, dass die hauptamtlichen MfSMitarbeiter in das geheimpolizeilich-repressive Vorgehen ihres Staatsorgans als »willige Vollstrecker« involviert waren. ([View Highlight](https://read.readwise.io/read/01gxwthdx0j4s0jmheqz2pdseg))
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